Am Mahnmal auf dem Platz der Erinnerung und des Gerdenkens gab es am Volkstrauertag 2022 Ansprachen von Herrn Bürgermeister Markus Hennemann, Frau Pfarrerin Andrea Thiemann und von Herrn Oberst a.D. Rainer Büschel. Anschließend wurde von Konfirmandinnen ein Text von Wolfgang Borchert vorgetragen.
Diese Texte wollten wir hier gerne dokumentieren.
Unsere Anfrage um Überlassung des Redetextes wurde von Bürgermeister Hennemann abschlägig beschieden: “…Wie in den letzten Jahren schon mitgeteilt, finde ich den Volkstrauertag nicht geeignet um diesen auf einer Homepage einer Partei oder Wählervereinigung zu nutzen.”
Über die Bickenbacher Reservistenkameradschaft wurde uns folgendes geantwortet: “Oberst a.D. Büschel hat zwar keine Bedenken bezüglich einer Veröffentlichung”, wies aber darauf hin, dass das gesprochene Wort gelte. “Er sei ( ) in Teilen doch erheblich von seinem Redemanuskript abgewichen.” Darüber hinaus wurde bewertet: “…die Homepage einer Partei ist nicht der richtige Ort, die oft auch sehr individuellen Gedanken zu diesem besonderen Tag und die Reflektionen in die heutige Zeit in eine breite Öffentlichkeit zu tragen.”
„Dann gibt es nur eins!“ – Sagt NEIN! (W. Borchert)
Volkstrauertag – 2022
Die Menschen haben nie aufgehört, Kriege zu führen. Aber für uns, die sogenannte Nachkriegsgeneration, waren sie immer weit weg. Weit weg – gingen uns die Kriege dieser Welt irgendwie nicht viel an. Und wir haben einiges dafür getan, sie nicht an uns heran kommen zulassen!
Seit Februar 2022 hat sich unsere Wahrnehmung verändert. Durch den von langer Hand geplanten Angriff russischer Truppen auf die Ukraine gibt es wieder Krieg in Europa. Der Krieg ist an uns herangerückt – auf etwa 1900 km – Flugzeit 2 ½ Stunden.
Seit dem Krieg hat sich auch unsere Realität, unser Alltag verändert. Es gibt Menschen in Bickenbach, die sich seit dem 25. Februar täglich um 18:00 Uhr hier auf dem Platz versammeln – als Zeichen gegen den Krieg, singen, Gedichte lesen, beten… Sie haben einen langen Atem. Den brauchen auch die Menschen in der Ukraine, denn ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Und wir? Wir pflegen unsere Feindbilder – alte und neue. Krieg funktioniert überhaupt nur mit Feindbildern. Gegen wen oder was sollte sonst auch gekämpft werden?
Unerfahrene, junge russische Wehrpflichtige, dem Konfirmandenalter kaum entwachsen, als Kanonenfutter an die Front geschickt – geben keine guten Feindbilder ab. Ihre Leichen wurden gleich vor Ort in eigens dafür mitgeführten Krematorien Wagen verbrannt. Kein großes Aufheben – keine Todes Nachricht an die Eltern.
Deutschland liefert Waffen an die Ukraine – zur Selbstverteidigung, ein Recht, das jedem Menschen, jedem Land zusteht.
Und dennoch!
Und dennoch handelt unser Land, unsere Regierung nicht selbstlos. Die Ukraine bildet jetzt ein Sicherheitspuffer zu einem Land, dessen Despoten wir hofiert und gefüttert haben – mit hervorragenden Handelsbeziehungen zu beiderseitigem Nutzen. Männerfreundschaften wurden gepflegt. Als die Krim 2014 annektiert wurde, hat „mann“ eben ein Auge zugedrückt!
Wir hatten die Ukraine als eigenständiges Land mit ethnischer Identität lange nicht auf dem Schirm. Aktuelle Studien zeigen, dass der deutsche Vernichtungskrieg im Osten immer noch als „Russlandfeldzug“ verstanden wird, nicht als Krieg gegen die Sowjetunion. Während der NS-Zeit unterschied die deutsche Gesellschaft kaum nach den ethnischen Zugehörigkeiten der Menschen aus der Sowjetunion und brandmarkte sie alle als „Russen“.
Sowohl die Wehrmacht an der Ostfront als auch die lokale Bevölkerung hatte wenig Ahnung vom multinationalen Charakter der Sowjetunion – für die Deutschen war ein „Sowjetbürger“ gleichbedeutend mit einem „Russen“. Bezeichnenderweise mussten sowjetische KZ-Häftlinge in deutschen Lagern den Buchstaben „R“ – für Russland/Russe – auf ihrem Dreieck tragen.
In der NS-Ideologie verbanden sich radikaler Antibolschewismus und Antisemitismus mit dem Slawenhass. Ein einfacher Wehrmachtssoldat nahm die Gebiete jenseits der polnischen Grenze als einen „wüsten und leeren“ Raum wahr, der kolonisiert werden musste.
Das Interesse der Wehrmacht beschränkte sich auf Jude – Nicht-Jude. Juden wurden in den meisten Fällen sofort ermordet, während Nicht-Juden vorerst für die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht von der Vernichtung ausgenommen wurden.
Hitler führte den Krieg nicht gegen Russland und nicht gegen die Ukraine oder Belarus – er führte ihn gegen den Erzfeind: den „jüdischen Bolschewismus“, den er auf das ganze Land projizierte. Das ukrainische Dorf Korjukiwka im Nordosten wurde zum Opfer einer brutalen Vernichtungsaktion. Es kann als eines der größten verbrannten Dörfer auf dem sowjetischen Gebiet gelten – etwa 6.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden dort von den Einsatzgruppen der SS am 1. und 2. März 1943 mit Maschinengewehren erschossen und verbrannt.
Es gehört auch nicht zu unserem kollektiven Gedächtnis, dass die meisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland Verschleppten aus der Ukraine stammten! Die Russifizierung des Sowjetischen ging in der Nachkriegszeit weiter: Die Wehrmachtsveteranen sprachen von ihrer Zeit „in Russland“, auch wenn sie in Kiew gewesen waren.
Das Jahr 1945 ist in der deutschen Wahrnehmung mit dem Klischee „dann kam der Russe“ verbunden – gemeint nicht im positiven Sinne eines Befreiers, sondern bezogen auf Russen als Täter, Plünderer, Vergewaltiger. Auch hier spielt der multinationale Charakter der Roten Armee keine Rolle, und so weiß heute kaum jemand, dass zum Beispiel Auschwitz von einem Muslim – Magomed Tankajev aus Dagestan – befreit wurde. Es war seine Division, die als Erste das Gelände des Vernichtungslagers betrat, ihm folgten die von Russen, Ukrainern und Letten angeführten Regimenter.
Spricht man vom Hass und von der Entmenschlichung des Gegners, werden die Parallelen zum heutigen völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine deutlich. Zum Feind kann aus der Sicht Russlands jeder werden, der gegen den Kreml und gegen die russische Besatzung ist, das heißt, auch ukrainische Juden, die man angeblich von ukrainischen „Nazisten“ befreien will.
Für die Menschen in der Ukraine ist es höchst symbolisch, dass es die gleichen Orte sind, die 1941 angegriffen wurden und 2022 erneut angegriffen und bombardiert werden: Kiew, Charkiv, Odessa und Lviv.
Die Erinnerungen an den „schrecklichen Krieg“ 1941–1945 werden geweckt und überdeckt von den schrecklichen Geschehnissen der Gegenwart.
(Vgl. Handreichung Marion Gardei, S. 20; Dr. Katja Makhotina, S. 40-43. https://hessen.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Hessen/LV_Hessen/Bereiche/Erinnern_und_Gedenken/2022_VTT-Handreichung.pdf)
„Wer nie daran verzweifelt, wie Unrecht die Welt regiert, hat kein Herz und keinen Glauben. Wer sich mit Ungerechtigkeit abfindet, wer im Hinblick auf die herrschenden Verhältnisse resigniert, der stützt die, die das Recht beugen.“
Darum: „Wenn alle mittun, steht allein, wenn alle JA sagen, sagt NEIN!“ dichtete einst der katholische Theologe, Pfarrer und Schriftsteller Lothar Zenetti aus Frankfurt.
Jede Debatte über gesellschaftliche Ideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz nicht sich wiederhole. Meinte sinngemäß einst Theodor Wiesengrund Adorno.
Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie. Gemeint ist hier die Fähigkeit zur Reflexion, zum Nachdenken über sich selbst als Teil einer Gesellschaft. Es meint die Kraft zur Selbstbestimmung, zur Selbstkritik und zum Nicht-Mitmachen. Sie wird unmittelbar erkennbar in der Fähigkeit, nein zu sagen!
Diese weitgreifenden Dimensionen hat der deutsche Schriftsteller, Wolfgang Borchert, 1947 in Poesie gegossen, unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges und kurz vor seinem Tod. Der Titel seines Gedichtes lautet: Dann gibt es nur eins! – Sag NEIN
Wir hören es gleich von Marie und Sophie und weiteren Konfirmand*innen.
Beitrag der Konfirmanden – Auszug aus:
Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelm und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie Dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heiligsprechen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren – sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Schneider auf deinem Bett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, Du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransporter, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisco und London, du am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Nicht vorgetragen wurde der zweite Teil des Textes von Wolfgang Borchert:
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest, den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfig blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen –
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich herumwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig unaufhaltsam –
der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken –
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln –
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln – zerbröckeln – zerbröckeln –
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch –
all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute Nacht schon, vielleicht heute Nacht, wenn – – wenn – – wenn ihr nicht NEIN sagt.