Margot Friedländer zum 9.11.1938
“Ich bin aus der Wohnung gekommen und merkte gleich, dass auf der Straße weniger Menschen waren als normal. Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Es roch komisch in der Luft. Ich sah sehr bald die ersten Geschäfte, vor denen Uniformierte standen und die Schaufenster zerbrochen waren. Und ich sah auch Menschen, die sich Sachen genommen haben aus den Geschäften und was bereits auf der Straße lag. So viel sie tragen konnten.
Ich bin nur zehn oder 15 Minuten weg gewesen und bin dann wieder zurück nach Hause gegangen. Als ich gegangen war, war es noch sehr ruhig gewesen. Und als ich zurückkam, haben alle gewusst, dass die Synagogen gebrannt haben, obwohl wir kein Radio hatten und kein Telefon. Meine Mutter und mein Bruder haben auf mich gewartet und waren sehr zerstört. Man hat bereits gewusst, was da ist. Meine Eltern waren ja geschieden und wir waren natürlich besorgt, wo der Vater war. Es hat Tage gedauert, bis er sich gemeldet hat. Er hatte sich versteckt. Es war sehr tragisch.”
Erich Kästner
In der Pogromnacht 1938 (aus: Unser Weihnachtsgeschenk, in: Erich Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene. Band 8, München/Zürich 1969, S. 47f.)
“Als ich am 10. November 1938, morgens gegen drei Uhr, in einem Taxi den Berliner Tauentzien hinauffuhr, hörte ich zu beiden Seiten der Straße Glas klirren. Es klang, als würden Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts, vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend, mit einer langen Eisenstange ein Schaufenster einschlug. War das besorgt, schritt er gemessen zum nächsten Laden und widmete sich, mit gelassener Kraft, dessen noch intakten Scheiben. Außer diesen Männern, die schwarze Breeches, Reitstiefel und Ziviljacketts trugen, war weit und breit kein Mensch zu entdecken. Das Taxi bog in den Kurfürstendamm ein. Auch hier standen in regelmäßigen Abständen Männer und schlugen mit langen Stangen ‘jüdische’ Schaufenster ein. Jeder schien etwa fünf bis zehn Häuser als Pensum zu haben. Glaskaskaden stürzten berstend aufs Pflaster. Es klang, als bestünde die ganze Stadt aus nichts wie krachendem Glas. Es war eine Fahrt, wie quer durch den Traum eines Wahnsinnigen. Zwischen Uhland- und Knesebeckstraße ließ ich halten, öffnete die Wagentür und setzte gerade den rechten Fuß auf die Erde, als sich ein Mann vom nächsten Baum löste und leise und energisch zu mir sagte: „Nicht aussteigen! Auf der Stelle weiterfahren!“ Es war ein Mann in Hut und Mantel. ‚Na hören Sie mal‘, begann ich, ‚ich werde doch wohl noch …‘ – ‚Nein‘, unterbrach er drohend. „Aussteigen ist verboten! Machen Sie, dass Sie sofort weiterkommen!“ Er stieß mich in den Wagen zurück, gab dem Chauffeur einen Wink, schlug die Tür zu, und der Chauffeur gehorchte. Weiter ging es durch die gespenstische ‚Nacht der Scherben‘. An der Wilmersdorfer Straße ließ ich wieder halten. Wieder kam ein Mann in Zivil leise auf uns zu. „Polizei! Weiterfahren! Wird’s bald?“
Am Nachmittag stand in den Blättern, dass die kochende Volksseele, infolge der behördlichen Geduld mit den jüdischen Geschäften, spontan zur Selbsthilfe gegriffen habe.”