Anfang Dezember 2021 hat der Gemeindevorstand der Gemeinde Bickenbach das gemeindliche Einvernehmen zum Bauantragsgesuch des Investors der „Neuen Mitte“ erteilt und somit die Grundlage für eine Baugenehmigung geschaffen.
Dies geschah im Wissen, dass der Prozess der Offenlage des Bebauungsplanes für das entsprechende Areal noch nicht abgeschlossen ist. Einwendungen, die im Rahmen dieser Offenlage im Mai 2021 eingegangen sind, sind der Gemeindevertretung bis heute nicht bekannt.
Zu diesem Vorgang hat der KOMM,A-Fraktionsvorsitzende Marc-Andre Lyachenko am 9. März 2022 Bürgermeister Hennemann, den Parlamentsvorsitzenden Nils Zeißler und alle Fraktionen angeschrieben. Darin führte er u.a. aus:
“Unsere Beigeordneten hatten diesbezüglich im Gemeindevorstand Bedenken geäußert. Ebenso hat unsere Fraktion (nach internem Bekanntwerden, dass das Einvernehmen bereits erteilt wurde) eine entsprechende Anfrage an den Gemeindevorstand gestellt. Diese Anfrage ist Stand heute noch nicht beantwortet.
Wir haben als Fraktion im Nachgang zu unserer Anfrage eine rechtliche Überprüfung dieses Vorganges über eine Fachanwaltskanzlei für Verwaltungsrecht in Darmstadt beauftragt. Diese Überprüfung kommt zu dem Schluss, dass der Gemeindevorstand das Einvernehmen nicht hätte erteilen dürfen. Das entsprechende Gesuch hätte in der Gemeindevertretung beraten und das Einvernehmen ggf. dort beschlossen werden müssen.
Der Gemeindevorstand um Herrn Bürgermeister Markus Hennemann hat gemäß dieser Einschätzung zudem Fakten geschaffen, die es der Gemeindevertretung aufgrund der Vorzeichnung schwer machen, neutral in die weiteren Beratungen zu gehen. Gegebenenfalls hat der Gemeindevorstand durch die Erteilung des Einvernehmens Zwangspunkte geschaffen, die Regressforderungen des Bauherrn ermöglichen, sollte, aus welchen Gründen auch immer, der Bebauungsplan nicht beschlossen werden oder im weiteren Verlauf, beispielsweise durch eine Klage, scheitern. Es ist höchstwahrscheinlich, dass Aufgrund des erteilten Einvernehmens bis dahin eine Baugenehmigung vorliegt.
Das ganze Vorgehen ist aus unserer Sicht sehr bedenklich. Ohne Not wurden Fakten geschaffen. Das Einvernehmen hätte im Dezember 2021 versagt und erst nach Beschlussfassung zum Bebauungsplan erteilt werden können, und zwar durch das Gemeindeparlament. Gründe für ein Versagen des Einvernehmens lagen vor. In diesem Zusammenhang möchten wir darauf hinweisen, dass § 36 BauGB kein vorbehaltliches Einvernehmen, wie in diesem Fall geschehen, vorsieht.”
Diese Schreiben wurde die fachliche Stellungnahme durch Herrn RA Olaf Herber ( Rechtsanwaltskanzlei Dr. Jacoby | Gutting ) beigefügt:
“in obiger Angelegenheit baten Sie mich als Fraktionsvorsitzender der Fraktion KOMM,A der Gemeindevertretung Bickenbach um eine Stellungnahme zur Frage, wer gemeindeintern über die Erteilung des Einvernehmens nach § 36 BauGB zu entscheiden hat.
Diese Frage ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Nach einer Auffassung ist für die Organkompetenz maßgebend, ob die Einvernehmenserteilung als eine in die Zuständigkeit des Gemeindevorstands fallende Aufgabe der laufenden Verwaltung angesehen werden kann oder ob es sich um eine Entscheidung handelt, die von dem Trägerorgan der Planungshoheit, also der Gemeindevertretung zu treffen ist. Nach der Gegenauffassung obliegt die Erteilung oder Versagung des Einvernehmens immer dem für die Ausübung der Planungshoheit zuständigen Organ der Gemeinde, in Hessen also der Gemeindevertretung (vgl. zum Streitstand BeckOK BauGB § 36 Rn.13).
Während nach der letztgenannten Ansicht eindeutig die Gemeindevertretung zuständig wäre, kommt es nach der erstgenannten Ansicht darauf an, ob im konkreten Einzelfall die Erteilung des Einvernehmens noch als Aufgabe der laufenden Verwaltung angesehen werden kann. Dagegen spricht, dass es sich bei dem vorliegenden Fall um ein Bauvorhaben zu dem Großprojekt „Neue Mitte” handelt. Dieses Großprojekt ist, wie etwa die Tatsache zeigt, dass der zunächst zugrundeliegende B-Plan im Mai 2019 im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens durch den VGhl Kassel gekippt wurde, und zuletzt 300 Einwendungen gegen den aktuellen Entwurf des B-Plans eingingen, innerhalb der Gemeinde Bickenbach sowohl politisch als auch rechtlich hoch umstritten. Es handelt sich deshalb um kein alltägliches, routinemäßiges Geschäft der laufenden Verwaltung, sondern um ein heftig umstrittenes, einmaliges Großprojekt mit grundsätzlicher Bedeutung für die Gemeinde Bickenbach, welches eine Beteiligung der Gemeindevertretung erforderlich macht.
Zusammengefasst lässt sich deshalb feststellen, dass nach den beiden zur gemeindeinternen Zuständigkeit hinsichtlich der Erteilung des Einvernehmens nach § 36 BauGB vertretenen Ansichten, hier richtigerweise die Gemeindevertretung zuständig gewesen wäre.
Außerdem besteht vorliegend die Besonderheit, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung auf der Grundlage von § 33 BauGB, also noch während der Planaufstellung und vor einer endgültigen Beschlussfassung über den aktuellen Bebauungsplanentwurf durch die Gemeindevertretung, erteilt werden soll. In solchen Fällen bestünde bei einer Zuständigkeit des Gemeindevorstandes für die Erteilung des Einvernehmens die Gefahr, dass dieser durch die Erteilung des Einvernehmens für eine Baugenehmigung auf der Grundlage eines noch nicht rechtskräftigen B-Plans, dem Trägerorgan der Planungshoheit (Gemeindevertretung) bereits die Entscheidung bezüglich des Bebauungsplanes vorzeichnet und damit unzulässig in dessen Rechte eingreift. Denn die Gemeindevertretung wird im Zweifel nicht gegen einen Bebauungsplan stimmen, auf deren Grundlage bereits mit dem ausdrücklichen Einvernehmen der Gemeinde eine Baugenehmigung erteilt wurde. Im Anwendungsbereich von § 33 BauGB kann folglich richtigerweise das Einvernehmen nur durch das für die abschließende Entscheidung in Bezug auf den Bebauungsplan zuständige Organ getroffen werden.
Die Zuständigkeit des Gemeindevorstandes ergibt sich auch nicht aus § 66 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 HGO. Diese Norm gilt nach § 66 Abs. 1 S. 2 HGO nur für die Aufgaben der laufenden Verwaltung, deren Grenzen aber, wie oben dargelegt, im Fall des Großprojekts „Neue Mitte” überschritten sind. Zudem steht der Gemeindevertretung nach § 50 Abs. 1 HGO grundsätzlich eine sog. Allzuständigkeit zu.”
Es ist nicht zu fassen. Ohne Not erteilt eine Mehrheit im Gemeindevorstand dem Investor für das Bauprojekt ‘Neue Mitte’ das gemeindliche Einvernehmen für seinen Bauantrag, bevor
Es ist zu befürchten, dass damit – wieder einmal in vorauseilendem Gehorsam – nicht revidierbare Fakten geschaffen worden sind.
Die Frage bleibt, ist dies seitens des Gemeindevorstandes wissentlich und sehenden Auges in Kauf genommen worden oder lag der Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens Unkenntnis und Unerfahrenheit zu Grunde.
So verliert man als gewählter Gemeindevertreter allmählich jegliches Motiv zur Mitwirkung und Mitgestaltung in unserer Gemeinde.
Bickenbach im März 2022
Ulrich Friedrich Koch